„Schulpolitik braucht jetzt mehr Ehrlichkeit!“
Hannover – Dieser Termin hätte nicht besser gewählt werden können. Gerade waren am Tag
zuvor die fatalen Ergebnisse des aktuellen IQB-Bildungstrends veröffentlicht worden, da traf
sich der Niedersächsische Landeselternrat mit seinen Vorständen der Stadt- und
Kreisebenen zur Diskussion mit den bildungspolitischen Sprechern der Landtagsfraktionen.
Allgemeiner Tenor: Schulpolitik braucht jetzt Ehrlichkeit und Transparenz, steht vor
gewaltigen Herausforderungen – bedarf dringender Korrektur, um nicht an die Wand
gefahren zu werden.
Ehe Landeselternratsvorsitzender Michael Guder im Sitzungsraum des Landtags den
Meinungsaustausch einläutete, stimmte Prof. Dr. Dietlinde Vanier von der Technischen Universität
Braunschweig die Elternvertreter auf die bestehenden Dilemmata des Bildungssystems ein. In
ihrem Impulsvortrag „Schule der Zukunft“ spannte die renommierte Erziehungswissenschaftlerin
den Bogen von strukturellen Gerechtigkeitsdefiziten zu Lasten der Kinder und Jugendlichen bis hin
zu einer eigentümlichen Lehrkräfteausbildung und konzeptionsloser Qualifizierung von
Quereinsteigern.
In der Bildungslandschaft sei die Entwicklung und Evaluierung von Mindeststandards für
Unterrichtsqualität notwendig, inklusive Schulen bräuchten einen rechtssicheren Rahmen, der
Lehrkräfte wie Schulleitungen von bürokratischen Aufgaben entlaste. „Ihre Fach- und
Beratungskompetenz sollte genau dort eingesetzt werden, wo sie gebraucht wird“, so Prof. Dr.
Vanier. Auch die Lehrpläne gehörten grundlegend entrümpelt. Das Referendariat als Gelenkstelle
zwischen Hochschule und Schule müsse zudem neu konzipiert werden. Forderungen, denen sich
die Elternvertretungen nach ihrem Vortrag einstimmig anschließen konnten.
In einmütiger Geschlossenheit traten zunächst die bildungspolitischen Sprecher der vier
Landtagsfraktionen auf. Einig waren sich die Abgeordneten Stefan Politze (SPD), Christian Fühner
(CDU), Julia Willie Hamburg (Bündnis 90/Die Grünen) und Björn Försterling (FDP) darin, dass der
Bildungsbereich finanziell nicht voll auskömmlich ausgestattet und daher aus jeglicher
Sparmaßnahme herauszuhalten sei. Kein Bildungspolitiker könne mit der aktuellen Situation
zufrieden sein – so dürfe die Unterrichtsversorgung, vor kurzem als völlig unzureichend in die
Schlagzeilen geraten, im statistischen Landesdurchschnitt nicht länger unter 100 Prozent bleiben.
Im zweieinhalbstündigen Schlagabtausch mit den bestens informierten Eltern aus ganz
unterschiedlichen Regionen Niedersachsens traten dann aber doch einige Unterschiede zwischen
den Parteien hervor: Während sich der Sozialdemokrat Stefan Politze für eine generelle
Lernmittelfreiheit aussprach und ausdrücklich auch die digitale Ausstattung mit einschloss, wollte
das sein Koalitionspartner Christian Fühner so pauschal nicht befürworten – seiner Ansicht nach
käme das nur für sozioökonomisch benachteiligte Familien in Betracht.
Seine grüne Kollegin, Julia Willie Hamburg, forderte vor allem mehr Freiräume für die Schulen – sie
sollten selber Personal einstellen können, dazu gehörten neben Lehrkräften auch Erzieherinnen
bzw. Erzieher und Verwaltungskräfte. Gemeinsames Lernen in einer sechsjährigen Grundschulzeit
sollte ermöglicht werden, ebenso die Freiheit zum Notenverzicht. Björn Försterling von den
Freidemokraten mahnte mehr Ehrlichkeit in der Bildungspolitik an. Der Fachkräftemangel im
Bildungsbereich sei dramatisch, umgehend müsste eine groß angelegte Lehrkräfte-Offensive
starten. Die Rahmenbedingungen seien deutlich zu verbessern, „eine einheitliche A13-Besoldung
für Grund-, Haupt- und Realschullehrer würde als eine Maßnahme für Entspannung sorgen“.
Richtig kontrovers ging es dann beim Thema Inklusion und Förderschulen zu. Waren sich noch alle
darin einig, dass die Inklusion nach ihrer Einführung vor nunmehr neun Jahren an vielen Schulen
noch immer nicht rund laufe, da es auch hier an Fachkräften und Unterstützungspersonal mangele,
gehen die Meinungen zur landesweiten Fortführung der Förderschulen mit dem Schwerpunkt
Lernen in diesem Zusammenhang auseinander. Geplant ist, keine Einschulungen ab 2023 in dieser
Schulform und die betroffenen Kinder in der inklusiven Regelschule zu unterrichtet. CDU und FDP
plädieren dafür, diese Förderschulen noch nicht abzuschaffen, sondern erst die Qualität der
Inklusion in den Regelschulen sicherzustellen.
Julia Willie Hamburg stellte für die Grünen klar, an dem Vorhaben festhalten zu wollen – und
handelte sich damit den Unmut der Elternvertreter ein. Die Weiterentwicklung der Inklusion sei als
gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu verstehen, dieser Umbruch biete die Chance, Schulen
insgesamt besser zu machen, argumentierte sie. Der Prozess werde von den regionalen
Beratungs- und Unterstützungszentren koordiniert und begleitet, bei Problemen sollen sich die
Eltern an spezielle Ombudsstellen wenden können.
Große Einigkeit herrschte dann wieder am Ende der Veranstaltung bei dem Vorschlag von Julia
Willie Hamburg: Ein Austausch der Elterngremien mit der Politik soll in dieser Form auf jeden Fall
fortgesetzt werden. Zudem werden die Elternvertretungen sich weiter aktiv einmischen und ihre
Forderungen zur Schulpolitik bis zur bevorstehenden Landtagswahl am 9. Oktober einbringen.